Film "Die Große Stille" Meditatives Zeitgefühl der Kartäusermönche

Rezension des Films von Jens Brachmann in "Berliner Zeitung" vom 10.11.2005:


Am Anfang ist das Ohr. Wenn ein neuer Mensch entsteht, dann hört er, lange bevor er etwas sieht. Wenn wir viereinhalb Monate alt sind und noch im Fruchtwasser schwimmen, dann ist das Ohr schon fertig, als unser erstes Sinnesorgan. Manche behaupten sogar, dass die Bewegung der Haarzellen im Innenohr die Ausbildung unseres Gehirns in Gang setzt. Die deutsche Sprache zumindest kennt den Zusammenhang von Vernehmen und Vernunft. Am Anfang ist das Ohr, auch in Philip Grönings Film "Die große Stille". Wir hören lange, bevor wir etwas sehen. Es ist dunkel und knackt. Und dann, wenn sich aus dem Schwarz die erste Form herausschält, was sehen wir dann? Ein Ohr. Ein Ohr auf dem kahl geschorenen Kopf eines jungen Mannes, der einen neuen Menschen in sich erwecken will. Er sucht die Stille, in der Gott selbst zu Wort kommt. Es ist ein Mönch, er lebt im Mutterkloster des Schweigeordens, benannt nach dem Alpenmassiv bei Grenoble: La Chartreuse. Es hat dem Orden seinen Namen gegeben: die Kartäuser. Philip Gröning hat einen Film über dieses Kloster gemacht. Fast ein ganzes Jahr lang ist er in der großen Kartause gewesen. Er verzichtet auf jeden Kommentar, es gibt keine Erklärungen, keine Informationen, keine Rechtfertigungen. Nur ein kurzes Gespräch am Ende: Ein alter, blinder Mönch erzählt von seiner Freude im Glauben und seinem angstfreien Weg auf den Tod zu. Ansonsten: Schweigen, fast drei Stunden Sprachlosigkeit, nur das Knacken des Brennholzes, das Rauschen der Bäume, das Knarren der Dielen, das Schürfen der Zinnschüssel am steinernen Wasserausguss. Was es heißt zu schweigen, kein Radio, keinen Fernseher, keine Musik zu haben, die Stimme nur bei den gemeinsamen Andachten zu erheben, nur einmal in der Woche beim Spaziergang mit den Brüdern zu reden - das ist es, was Grönings Film in 162 Minuten anzudeuten sucht. Der Film ist keine Dokumentation. Er ist Verkündigung. Als Schrift werden Auszüge aus den Ordensstatuten und Bibelstellen eingeblendet. Refrainartig kehrt Jesu Mahnung wieder: "Wer nicht alles verlässt und mir nachfolgt, kann nicht mein Schüler sein". Oder das Erweckungszeugnis: "Du hast mich verführt, o Herr, und ich, ich habe mich verführen lassen". Dieser Film leistet Beihilfe zur Verführung und ist selbst die Chronik einer Verführung. Nun wäre es einfach, das hier im Glanz des Schweigens überhöhte Mönchtum einer theologischen Kritik zu unterziehen. Ein Lutheraner zumindest hätte Zweifel, ob man mit einer bestimmten Art der Lebensführung Gottes Gnade erwirken kann. Und ist es nicht auch bequem, wenn man sich der Welt entzieht und seinen Glauben nicht der Bewährung aussetzt an jenen Menschen, die einem das Leben schwer machen, einen anfeinden, einem lästig sind? Muss nicht für einen Christen auch das Gebot gelten, das der Jude Martin Buber formuliert hat: "Du sollst dich nicht vorenthalten"? Solche Kritik schmälert die existenzielle, aber auch die ästhetische Größe dieser Stille nicht. Sprachskepsis hat die Kunst immer vorangebracht. So ein gewaltiger Schub kam um 1800 in Gang, als aus Verzweiflung über die Korruption der menschlichen Sprache die Metaphysik der absoluten Musik entstand. Grönings Abschied vom Gerede macht den Weg frei zum absoluten Film, zur Befreiung der Bilder von der Illustration der Worte oder der Dokumentation von Sachverhalten. In den eingeschobenen Super-8-Sequenzen öffnen sich die Ränder der Dinge, ihre Gegenständlichkeit löst sich auf. Die Kreise, die ein Tropfen in stehendem Wasser wirft, verwandeln das Filmbild in bewegte, ganz abstrakte Grafik. Es gibt viele Stillleben: Obstschalen auf Holzbänken, ein Kanten Brot und im winterlichen Mittagslicht der dampfende Napf Tee daneben. Er zeigt an, wie die Zeit vergeht. Stumme Porträts von Mönchsgesichtern, der Wechsel der Tages- und der Jahreszeiten geben dem Film seinen Rhythmus. Philip Gröning zeigt mehrmals in zeitgerafften Bildern, wie sich das Firmament über der unbewegten Kartause dreht, eine vor-kopernikanische Sicht auf die Welt. Auch wir reden ja immer noch von "Sonnenaufgang" und "Sonnenuntergang" wie gute alte Ptolemäer. Nicht alles Wissen, das für wichtig gilt, berührt unser Leben wirklich. Und wenig von dem, was wir vernehmen, ist vernünftig. Das meiste betäubt uns nur, statt uns zu erfüllen. Darauf kann man zwar auch ohne Philip Grönings Film kommen - mit ihm aber ist es schöner.