Erster Akademie-Tag / 23. Mai 2016
Vormittag
Zunächst gab uns die israelische Journalistin Lydia Aisenberg eine Einführung in die Geschichte und Aktivitäten von Givat Haviva. Sie erzählte uns aus ihrem Leben (siehe dazu mehr in der Menüleiste "Gespräche") und wies uns auf die Symbolfiguren der Israelis (Srulik) und der Palästinenser (Handala) hin, die auf der Außenfassade eines Gebäudes von Givat Haviva Hand in Hand umschlungen zu sehen sind. "Das macht für mich Givat Haviva aus", so Lydia. Diese Kombination beider Figuren wurde vom Karikaturisten Yuval Kaspi erschaffen.
Israelis und Palästinenser haben je ihre Symbolfiguren. Der israelische Karikaturist Kariel Karadosh, der jahrzehntelang für die Tageszeitung "Ma' ariv" gearbeitet hat, erschuf "Srulik", den dünnbeinigen Sandalenträger mit Kibbuzhut. Die Figur des "Handala" mit den stacheligen Haaren wurde vom palästinensischen Karikaturisten Naji Salim Al-Ali erschaffen. Al-Ali war sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber der palästinensischen Führung kritisch. Er wurde 1987 in London ermordet. Handala ist nur und ausschließlich von hinten zu sehen (mehr dazu in dem Artikel "Srulik & Handala" von Lydia Aisenberg, siehe Menüleiste "Journalistische Artikel").
Anschließend gab uns Lydia einen geschichtlichen Überblick der Entwicklung in der Region um Givat Haviva seit 1948. Sie erklärte uns die verschiedenen Grenzen:
* die "grüne" Linie, die Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen Israel und Jordanien, heute die Grenze (gemäß UN-Resolutionen, wenngleich nicht völkerrechtlich anerkannt) zwischen Israel und der Westbank (Palästinensische Autonomiebehörde)
* die "organene" Linie (so farblich auf der Karte markiert), das ist der von den Israelis festgezogene "Sicherheitszaun" zu den palästinensischen Gebieten hin- zu 92% bestehend aus einem Zaun, bei 8% der Grenze zwischen Israel und Westbank, vor allem rund um Jerusalem, wurde eine Mauer errichtet. Hier wurde also die Grenze von der Israelischen Regierung in das Gebiet der Westbank - völkerrechtswidrig - hineinverlegt (zumeist zum Schutz von jüdischen Siedlungen (auf der Karte farblich gelb markiert), die sich in diesem Gebiet - Lydia Aisenberg nennt es "Limboland" (Land des Zwischenraums) - befinden.
Auf der Karte rechts sind darüber hinaus noch eine pinke Linie zu sehen, Road Nr. 65, und eine blaue, Road Nr. 66, seit jeher die wichtigsten Verbindungslinien in dieser Region. Wer sie kontrolliert, kann das Land in Nord und Süd teilen.
Nachmittag
Es folgte die Exkursion an die Grenze, sicherlich an die heißeste Grenze seit Beginn unserer "Akademie an der Grenze" in 2004. Spürbar war dies insbesondere an einem Checkpoint zur Westbank, zum anderen auch an dem Umstand, dass oft auf den ersten Blick nicht klar war, wo wir uns gerade befanden: in Israel, in der Westbank oder in "Limboland"? Lydia erklärte uns immer wieder geduldig, was kaum zu verstehen ist - trotz Karte.
In diesem "Limboland" führt uns Lydia in eine riesige Auto-Schrott-Verwertung. Wir reden mit palästinensischen Arbeitern, die jeden Morgen aus der Stadt Nablus eine Stunde zusätzlich als Folge des "Sicherheitszaunes" je Weg pendeln müssen. Zudem müssen sie jeden Tag für den Weg zwischen dem "Sicherheitszaun" und ihrer Arbeitsstätte rund einen Stundenlohn ausgeben, da sie diesen Weg nur mit Taxis und nicht mit eigenen Autos zurücklegen können. Dass ihr Leben und ihre Arbeitstage hart sind, liegt allein deshalb schon auf der Hand. Reden tun sie uns gegenüber nicht viel darüber, berichten nur nüchtern. Gleichzeitig wirken sie stolz. Drei Brüder, und alle haben Arbeit. Von ihrem Verdienst lebt die gesamte Großfamilie. Alle wertvollen Bestandteile der ausgeschlachteten Autos gehen schließlich über den Hafen Haifa nach China.
Im Zuge unserer Exkursion kamen wir auch nach Barta'a, ein Ort, der bei den Waffenstillstandsverhandlungen im Jahre 1949 durch ein
Versehen durch die "Grüne Linie" geteilt wurde. West-Barta'a liegt seither in Israel, Ost-Barta'a in der Westbank (siehe dazu den Artikel von Lydia Aisenberg: "Barta'a - Ein Dorf mit gespaltener
Persönlichkeit" in der Menüleiste "Journalistische Artikel")
Zweiter Akademie-Tag / 24. Mai 2016
Der Vormittag diente uns zur Reflexion des Erlebten, des Gesehehen vom Vortag.
Am Nachmittag fuhren wir mit dem Bus ins Nahe gelegene Haifa. Wir wollten hier erkunden, wie im Alltag das Zusammenleben von Juden und Arabern aussieht. Zunächst besuchten wir das Weiterbildungszentrum Beit Hagefen, das sich ebenfalls der Verständigung zwischen Juden und Arabern widmet (mehr dazu siehe die Menüleiste "Gespräche").
Im Anschluß an die Gespräche folgte eine Stadtführung durch Haifa, an der Spitze die Leiterin von "Beit Hagefen", Zahava Koronyo. Die Stadtführung konzentrierte sich auf folgende Teile von Haifa:
* das alte arabisch-muslimische Viertel;
* die Bahai' -Gärten
* der deutsche Kolonie des Templer-Orden
Abgerundet wurde dieser dichte und intensive Tag mit einem Abendessen in dem exzellenten, arabischen Lokal "Kalamaris" oberhalb der Stadt, mit einem wunderbaren Ausblick über die Bucht und den Hafen von Haifa.
Dritter Akademie-Tag / 24. Mai 2016
Dieser Tag hatte zwei Schwerpunkte:
* weitere Gespräche - mit Samer Atamni, arabischer Co-Direktor in Givat Haviva, und mit Micky Drill, Projektleiter der deutschen Friedrich Ebert Stiftung, Büro Tel Aviv (mehr dazu siehe Menüleiste "Gespräche"),
* weitere Reflexion des bisher in der Akademie 2016 Erlebten.
Immer wieder beschäftigte uns in diesen Akademie-Tagen die Fragen nach den "Narrativen" und den unterschiedlichen Wahrnehmungen dazu auf beiden Seiten. Der international bekannte israelische Autor Amos Oz beschäftigt sich in seinem Werk ebenfalls immer wieder mit dieser Frage, so auch in seinem Roman "Judas", der auf Deutsch 2015 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Eine der Hauptprotagonisten darin ist in Haifa aufgewachsen. Amos Oz lässt ihn in seinem Roman die Ereignisse von 1948 in Haifa schildern, wobei die beiden unterschiedlichen Sichtweisen auf dieselben Ereignisse sehr deutlich werden.
"Als ich ein Kind war, kamen in Haifa allerdings arabische Kunden in das kleine Vermessungsbüro meines Vaters in Hadar ha-Carmel, der >Möwe GmbH<. Von Zeit zu Zeit kamen Grundstücksmakler zu uns, Effendis mit roten Turbanen, mit Umhängen und Anzügen mit Goldketten, die über ihren Bauch hingen und in goldenen Uhren endeten, die bei ihnen in den Seitentaschen steckten. Sie wurden mit Likör und Leckereien bewirtet und unterhielten sich ganz ruhig und höflich ausführlich mit meinem Vater und seinem Teilhaber, auf Englisch oder Französisch. Sie lobten den Abendwind vom Meer oder die Olivenernte. Und manchmal luden sie uns, meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester und mich, zu sich in die Allenbystraße ein. Die Diener brachten ein Tablett nach dem anderen mit Kaffee und starkem arabischen Tee, Erdnüsse, Walnüsse, mandeln, Halvah und Süßigkeiten. Sie rauchten gemeinsam eine Zigarette und noch eine und waren sich einig, dass die ganze Politik überflüssig war und uns allen nur schaden würde. Ohne Politik könnte das Leben ruhig und schön sein. Bis sie dann eines Tages in Haifa jüdische Autobusse angriffen. Es folgten blutige Vergeltungsaktionen jüdischer Kämpfer auf Dörfer in der Bucht, der aufgehetzte arabische Mob schlachtete jüdische Arbeiter in den Ölraffinerien ab, und wieder kam es zu Vergeltungsaktionen, jüdische und arabische Scharfschützen verschanzten sich auf Dächern hinter Barrikaden aus Sandsäcken, zwischen den arabischen Vierteln und den jüdischen wurden Straßensperren mit befestigten Stellungen errichtet. Im April 1948, einen Monat vor dem Abzug der Briten, bestiegen Zehntausende Araber aus Haifa Schiffe und Fischerboote und flohen in den Libanon. Noch am letzten Tag haben die jüdischen Führer aus Haifa verkündet, sie hätten sie zum Bleiben gedrängt. Allerdings wurden sie in Lod und an vielen anderen Plätzen nicht zum Bleiben gedrängt, sondern ermordet oder vertrieben. Auch bei uns in Haifa haben diese Ankündigungen nichts genützt. Die Araber waren schon bis ins Mark erschreckt. Die Angst vor dem Abgeschlachtetwerden schwebte über ihnen: Gerüchte machte unter ihnen die Runde, die Juden hätten vor, sie alle umzubringen, so wie sie die Bewohner des Dorfes Deir Yassin umgebracht hatten, das nicht weit von diesem Haus hier (in Jerusalem, Anm. PK) lag, auf der anderen Seite des Hügels. Über Nacht waren fast alle arabischen Bewohner Haifas verschwunden. Bis vor kurzem ging ich an arabischen Vierteln vorbei, in denen jetzt Neueinwanderer wohnen, spazierte gegen Abend durch Gassen, in denen noch immer ein paar tausend Araber wohnen, die es vorgezogen haben, in Haifa zu bleiben, und fragte mich, ob das, was passiert ist, wirklich passieren musste. Mein vater seinerseits behauptet bis heute, dass es keinen Ausweg gab. Der Unabhängigkeitskrieg sei ein totaler Krieg gewesen, ein Krieg um Leben oder Tod, entweder wir oder sie, ein Krieg, in dem nicht zwei Armeen gegeneinander gekämpft hätten, sondern zwei Bevölkerungen, Straße gegen Straße, Viertel gegen Viertel, das Fenster eines Hauses gegen das Fenster gegenüber." (Amos Oz: Judas. Roman. Berlin: Suhrkamp, 2015. S. 250-252)
Gerade dazu befand ich mich in diesen Akademie-Tagen in einem ständigen Auf und Ab, weil ich beide Sichtweisen, beide "Narrative" für wahr halte. Und was damit weiter?
Ein weiterer Teilnehmer der Akademie stellte aus seiner Sicht dazu folgende Frage: "Was heißt eigentlich >zwei Narrative<? Könnte es nicht sein, dass das Bestehen auf zwei Narrative die
jeweilige Sicht zementiert?"
Darauf die Antwort einer weiteren Teilnehmerin: "Ich denke, dass es im israelisch-palästinensischen Konflikt schon ein Gewinn wäre, wenn beide Seiten überhaupt akzeptieren würden, dass es
unterschiedliche Narrative gibt. Doch die Frage weist darüber hinaus. Wer sich dessen nicht bewusst ist, dass historische Wahrheit, Mythos und Narrativ nicht dasselbe sind, der könnte tatsächlich
Gefahr laufen, seinen/ihren Narrativ zu einem Mythos und dadurch unbeweglich zu machen.
Ich halte dies für die wichtigste Lernerfahrung überhaupt, denn das wirkliche Leben spielt sich nie in Ideologien ab, sondern in Zwischenräumen. (hervorgehoben durch mich, Anm.
PK) Und Wirklichkeit kann sich nur verändern, wenn ihre Wahrnehmung beweglich bleibt für das real existierende Leben."