"Keine Angst, hier gibt´s auch Deutsche! Unser neues Leben im Problemkiez" (Buch von Thomas Lindemann)

Der Journalist Thomas Lindemann beschreibt in seinem Buch mit diesem Titel (erschienen im Berlin Verlag, 2016) die Erfahrungen von sich und seiner Familie in Zusammenhang mit ihrem Umzug von Berlin-Prenzlauer Berg (ein bürgerlich-grün-alternativ geprägter Stadtteil) nach Berlin-Neukölln, strukturiert in einem Dreiklang: ERSCHRECKENDES - ERSTAUNLICHES - ERBAULICHES.

Im Verlauf der Akademie habe ich immer wieder Passagen aus diesem Buch vorgelesen. Wer Neukölln, die verschiedenen Migrationen und Integrationen in diesem Stadtbezirk näher kennen lernen und sich damit auseinandersetzen will, dem und der sei die Lektüre dieses gut und zugleich leicht lesbar geschriebenen Buches empfohlen. Hier an dieser Stelle will ich aus dem Resumeé von Thomas Lindemann (vgl. S. 284 - 286) zitieren:

"Neukölln verstehen ist wie Hegel lesen: Ständig sind zwei Sachen gleichzeitig wahr, die nicht zueinanderpassen. Und man grübelt wie verrückt, wie sich das wohl auflösen lässt. (...) Neukölln könnte durchaus das neue Deutschland sein. Oder, es zeichnet - bei all seinen Problemen - den Weg vor. Das Jahr 2015 hat Deutschland eine massive Zureise von Hilfesuchenden aus Kriegsgebieten gebracht, und verändern wird sich dieses Land so und so. An Neukölln kann man schon einmal studieren, worum es dabei gehen wird. Wir fühlen uns wohl als Familie, auch wenn wir Eltern einen skeptischen Blick beibehalten werden. Die Gewalt, den bisweilen rauen Ton, den Dreck, die Armut können wir nicht ignorieren.
Aber manches ist hier einfach auch schöner. Es ist Samstag, wir wurschteln alle in der Küche herum, und plötzlich klingelt es. Spontane Reaktion, leicht misstraurisch. "Wer ist denn das jetzt?" Forsch greife ich zum Hörer und rufe: "Ja, hallo?" Es kann eigentlich nur der Paketbote sein, da muß man schnell zupacken, bevor er wieder verschwindet und die Post bei jemand anderem unterstellt. Die meisten scheuen den Weg in den fünften Stock. Da antwortet eine leise Stimme: "Ja, hallo, hier ist Mara, kann Leo zum Spielen runterkommen?" Ich bin so baff, dass ich gar nicht weiß, was ich antworten soll. Zum ersten Mal seit neun Jahren, also seit Leos Geburt, klingelt ein Kind spontan bei uns, um sich zu verabreden. So ganz ohne Vorankündigung, ohne langwierige elterliche Interventionen vorher - "ja, da muss ich erst mal mit Maras Mama telefonieren" etc. Toll! Wie früher. Da hat meine Mutter auch keine Treffen für mich arrangiert. (...)
Selbstverständlich fühle ich mich nicht fremd auf den Straßen. Die allermeisten Migranten bemühen sich sehr um Integration, manche sind deutscher als Deutsche. Ich sehe auch mehr aufwendig geschminkte junge Mädchen als verhüllte oder auch nur Kopdtuch tragende auf der Karl-Marx-Straße oder der Sonnenallee. Die Nichtdeutschen tragen zu einem florierenden, interessanten Leben bei, ich bin froh, dass sie da sind.

Mein Sohn Leo kommt ein paar Wochen nach seinem migrantenfeindlichen Wutanfall auf mich zu und sagt: "Papa. Ich will jetzt Türkisch lernen. Du musst hier etwas unterschreiben, damit ich den Kurs in der Schule besuchen darf." Hastig kritzle ich meinen Namenauf das Blatt. Woher der Sinneswandel? "Damit ich verstehe, was die anderen über mich reden." Na gut. Das ist noch nicht Völkerverständigung, aber es ist ein Anfang."