Meine Großväter im Ersten Weltkrieg

Christoph Schmidt-Lellek verfasste für die Akademie in Verdun ein 2-seitiges Papier, in dem er über seine beiden Großväter im Ersten Weltkrieg schreibt. Hier einige Auszüge, denen der gesamte Text als download-pdf folgt. Der Autor zitiert zunächst aus den Lebenserinnerungen seines Großvaters mütterlicherseits, Wihelm Stählin:

 

„Man kann sich kaum mehr vorstellen, von welchem Rausch militärischer Kraftgefühle und patriotischer Opferbereitschaft der größte Teil des deutschen Volkes damals ergriffen wurde. Ich fuhr mehrmals nach Nürnberg, einfach aus dem Verlagen, an dem allgemeinen Erleben mehr teilzuhaben, (...)

„Heute nach mehr als 60 Jahren könnte ich nicht mehr sagen, warum ich mich zum Dienst als ‚freiwilliger Feldgeistlicher‘ meldete. Das einfache Verlangen, ‚dabei zu sein‘, verband sich wohl mit einem gewissen Abenteuerdrang. (…) Meine Frau war viel zu sehr Offizierstochter, als daß sie versucht hätte, mich abzuhalten.“

 

Christoph Schmidt-Lellek führt am Ende seines Textes einige Hinweise an, wie der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich den Ersten Weltkrieg erlebt und dann anschließend verarbeitet hat. Wilhelm Stählin und Paul Tillich waren befreundet.

 

Schon nach den ersten Wochen war meine ursprüngliche Begeisterung vorüber. Nach wenigen Monaten war ich davon überzeugt, daß der Krieg unabsehbar lange dauern und ganz Europa vernichten würde." In einer Biographie über Tillich wird dargestellt, dass er – durchgängig an der Westfront in Nordfrankreich, u.a. in der Schlacht um Verdun bzw. das Fort Douaumont – einerseits sehr dicht an den Kampfhandlungen war, indem er bei den Soldaten in den Stellungsgräben selbst Gottesdienste gehalten hat. Andererseits ist er mehrmals psychisch zusammengebrochen, sodass er längere Zeit selbst in Lazaretten zubrachte.  (...) So hat er auch sein theologisches und philosophisches Denken radikal verändert; so spricht er im Dezember 1917 von dem „Paradox des Glaubens ohne Gott“

Meine Großväter im Ersten Weltkrieg
Text von Christoph Schmidt-Lellek
Großväter im 1. Weltkrieg.pdf
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Felix Heussen an seiner Frau Katharina nach seiner Verwundung - August 1944

Hejo Heussen las am Nachmittag des zweiten Akademie-Tages aus einem Brief seines Vaters Felix Heussen vor, den dieser im August 1944 nach seiner Vrewundung an seine Frau Katharina schrieb. Zunächst folgt der gesamte Text (als download pdf), dann einige Auszüge.

Felix Heussen an seine Frau Katharina nach seiner Verwundung im August 1944
Brief von Felix Heussen 1944 Die Verwund
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Mein liebes gutes Herz!

 

Meine lieben Jungens!

(...)

Was ist nun geschehen!? Zunächst einmal besitze ich außer Hose und Feldbluse und was ich anhatte, nichts mehr. Alles habe ich auf der Flucht dem Russen lassen müssen.  (...) um mein Leben für Euch zu erhalten. (...) lasst dafür ein Dankopfer lesen. (...)

Der erste Auftrag unsere Kompanie war, ein Dorf systematisch zu zerstören, (...) die Sache gelang programmgemäß sehr gut. (...)

Dann kam der Auftrag, eine 24-Tonnen-Brücke zu bauen, (...) denn der Russe merkte etwas und stieß stark nach. Fast alle unsere Pionierarbeit war umsonst und wir mussten froh sein, lediglich einige Brücken noch frühzeitig sprengen zu können.
Der Rückzug begann in Nervosität und Hast. (...) Nun drückte der Russe, die müden Körper wurden wieder hoch gerissen und in Eilmärschen ging’s los. (...)

Solche Feuerüberfälle kamen nun am Tage nochmals. Als Melder musste ich manchmal aus meinem Loch raus, um Meldungen an die Gruppen weiterzugeben. Das war jedes Mal sehr kritisch, denn die Russen hatten Baumbeobachter und jedes Mal schossen sie wie wild hinter mir her. (...)

Da um 6:30 h erreichte mich mein Schicksal. Ratsch-bumm, Abschuss und Einschlag bzw. Detonation war eins. Genau in Kopfhöhe 1 m rechts von mir krepierte die Granate. Ich sah nur eine rote Flamme, bekam einen gewaltigen Schlag von rechts und duckte mich blitzartig in mein Loch. Für Sekunden hatte ich das Gehör verloren, fasste unwillkürlich an meinen Kopf und Hals und stellte im Augenblick einen starken Blutstrom fest, der sich auf Brust, Hemd und Feldbluse ergoss. Ich rief um Hilfe, aber keiner der Kameraden konnte mir helfen, (...)

Eines merkte ich bald: ich habe unter dem ganz besonderen Schutz Gottes gestanden, denn was hätte mit diesem Schuss, der nur für mich persönlich abgefeuert wurde, (es ist eine neue bekannte Sache, dass der Russe mit seinen kleinen Geschützen auf den einzelnen Mann schießt) alles passieren können? (...) Eines merkte ich bald: ich habe unter dem ganz besonderen Schutz Gottes gestanden, denn was hätte mit diesem Schuss, der nur für mich persönlich abgefeuert wurde, (es ist eine neue bekannte Sache, dass der Russe mit seinen kleinen Geschützen auf den einzelnen Mann schießt) alles passieren können? (...)

Langsam wurde und werde ich jetzt wieder Mensch. (...) Nun ist alles vorüber. Und indem ich schreibe, fällt mir alles wieder ein, vor allem das Datum meiner Verwundung. Es war der 28. Juli. Merkst Du was, mein gutes Herz? Es ist der Tag unserer standesamtlichen Trauung vor 6 Jahren. Bald wäre es mein Todestag gewesen! (...)

In Wirklichkeit zieht mich ja doch alles zu Euch.

Klaus Pumberger: Worüber wir nicht geredet haben

In diesem Teil der Akademie las Klaus Pumberger aus seinem Buch "Worüber wir nicht geredet haben" (mehr dazu http://klaus.pumberger.org) vor. Zunächst der gesamte Textausschnitt aus dem Buch, dann wiederum einige Auszüge:

Mein Onkel Josef Haspnger und der Zweite Weltkrieg
Stalingrad - die Kriegswende
Mein Onkel Josef Haspinger und der Zweit
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* Abschied von meinem Onkel Josef Haspinger

„Aber das weiß ich noch genau, wie der Seppl (so wurde Josef Haspinger in seiner Familie gerufen) auf Urlaub da gewesen ist. Er ist ein paar Schritte vor mir gegangen, vielleicht sechs, sieben Schritte, hat sich umgedreht, und hat gesagt: `Ich komme nimmer heim´. Das weiß ich, als ob es heute wäre. Wirklich wahr. Und so ist es auch gewesen“, erinnert

sich Jahrzehnte später eine Schwester.
„Das war vor Schulbeginn. … Und wie sie da den Seppl zusammengepackt haben zum Fortgehen, hab ich irrsinnig geweint und bin zum Nachbarn gelaufen. Weil ich hab das gar nicht sehen wollen, wie der weggeht. Weil die Mutter hat dabei sehr geweint.“

 

* Sommer 1942 - Tiefpunkt des 20. Jahrhunderts

19. Juli 1942, in der Nähe zum Fluss Don, Sowjetunion

Tagesbefehl der 100. Jäger-Division, 6. Armee der Deutschen Wehrmacht:

„Bis spätestens 1. August sind alle Südtiroler Soldaten zu melden. Es handelt sich um die Verteilung einer Wein­-Spende der Südtiroler Arbeitsgemeinschaft der Optanten, die vorwiegend Südtirolern zu Gute kommen soll.“

Erreicht dieser Südtiroler Wein auch Josef Haspinger? Und wenn der Seppl davon trinkt, welche Gedanken, welche Bilder gehen ihm durch den Kopf? Wenn er etwa an seine Lieben zu Hause denkt, kommen ihm dabei auch Gespräche in den Sinn, die er in den Monaten vor seinem Einrücken mit seiner Mutter geführt hat? (...)

Neun Tage zuvor, 10. Juli 1942. Die Journalistin Dorothy Thompson tritt US-Rundfunk in ihrem wöchentlichem Programm „Listen, Hans“ auf. An diesem Tag wendet sie sich an einen Freund aus Berlin: „Müssen sich die Deutschen nicht fragen, ‚warum haben wir fremde Länder überfallen? Was tun wir eigentlich in den Steppen von Russland?‘“

Drei Tage später, 22. Juli 1942. In Warschau entwirft der SS-Offizier Hermann Höfle eine Order, die unmittelbar das Ende des jüdischen Gettos und den Tod Hunderttausender bedeu­tet. Mit dabei ist auch der 22-jährige Marcel Reich (später bekannt als Marcel Reich-Ranicki, der deutsche „Literaturpapst“), der als Übersetzer im von den deutschen Besatzern eingesetzten „Judenrat“ arbeitet. Er wird in den Konferenzsaal gerufen, um die neue Anordnung zu protokollieren: „Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. … Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viele Juden gibt.“

 

* Wolgograder Ambivalenzen

 Eine Assoziation von mir lautet: konnte Onkel Josef als sehr sensibler 20-jähri­ger Mann (und als solcher wird er von allen, die mit ihm in Kontakt waren, übereinstimmend beschrieben) die Angst, die er in der Schlacht von Stalingrad immer wieder durchlebt haben muss, verwandeln? Was hätte das sein können? Konnte es erst den nachfolgenden Generationen gelingen, die Angst zu transformieren? In Mut, aus dem dann die Kraft zur Versöhnung kommen kann: mit seiner eigenen Geschichte in ihrer Gesamtheit; zwischen Gesellschaften und Völkern, zwischen Generationen und Familien.

Solche Überlegungen helfen mir, die Ambivalenz der widerstreitenden Gedanken und Gefühle auszuhalten. Letzte Nacht habe ich lange nicht einschlafen können. Auf einmal erschien es mir ganz klar zu sein. Ist es nicht genau diese Ambivalenz, dieses Paradoxe, das sich wie ein roter Faden durch meine Familiengeschichte zieht?